(Erhalten am 28. August 2004; erste Überprüfung mitgeteilt am 12. September 2004; in überarbeiteter Form am 28. September 2004; akzeptiert am 7. Oktober 2004)

Thiamin (Vitamin B1) ist ein wasserlösliches Vitamin, das am Stoffwechsel von Glukose und Lipiden sowie an der Produktion von aus Glukose gewonnenen Neurotransmittern beteiligt ist (siehe Cook et al., 1998). Sein Mangel führt zu einer Vielzahl von neurologischen und kardiovaskulären Symptomen und Anzeichen. Zu den frühen Symptomen können Müdigkeit, Schwäche und emotionale Störungen gehören, während ein länger anhaltender Mangel zu einer Form von Polyneuritis (bekannt als trockene Beriberi), Herzversagen oder peripheren Ödemen (feuchte Beriberi) führen kann (Thomson, 2000).

Schwerer Thiaminmangel (TD) kann zur Entwicklung der Wernicke-Enzephalopathie (WE) führen. Die klassischen Anzeichen einer WE sind Störungen der Augenmotilität (Nystagmus, Ophthalmoplegie), Ataxie und mentale Veränderungen (Verwirrtheit, Schläfrigkeit, Obtundation, Bewusstseinseintrübung, Präkoma und Koma), obwohl kleinere Episoden von „subklinischen“ Enzephalopathien häufig sind (Reuler et al., 1985). Eine angemessene Behandlung kann die meisten dieser Anomalien korrigieren; im Gegensatz dazu kann das Fehlen einer WE-Diagnose zu schwerwiegenden Folgen führen (Reuler et al., 1985). Wenn Patienten mit WE unangemessen mit niedrigen Thiamin-Dosen behandelt wurden, lag die Sterblichkeitsrate bei durchschnittlich ∼20 % und die Korsakoff-Psychose (KP) entwickelte sich bei ∼85 % der Überlebenden (Thomson et al., 2002).

Die KP ist gekennzeichnet durch anterograde und retrograde Amnesie, Desorientierung, schlechte Erinnerung und Beeinträchtigung des Kurzzeitgedächtnisses in Verbindung mit Konfabulation: Etwa 25 % der Patienten, die von der KP betroffen sind, müssen langfristig in einer Einrichtung untergebracht werden (Reuler et al., 1985). Aufgrund der engen Beziehung zwischen WE und KP werden diese beiden Störungen gewöhnlich als Wernicke-Korsakoff-Syndrom (WKS) bezeichnet und als eine einzige Krankheit betrachtet (Thomson, 2000).

Alkoholismus ist die häufigste Ursache für TD in den westlichen Ländern, und die Prävalenz von WKS ist bei Alkoholikern 8-10 mal höher als in der Allgemeinbevölkerung (12,5 bzw. 0,8%) (Reuler et al., 1985). Das WKS ist ein klinischer Notfall, der die rasche Verabreichung hoher Dosen von Thiamin erfordert; es gibt jedoch keine klaren Leitlinien für die erforderliche Dosierung und die Dauer der Behandlung bei alkoholabhängigen Patienten (Day et al., 2004). Das vorliegende Schreiben soll einen Beitrag zur Diskussion über die Thiamindosierung, den Verabreichungsweg und die Behandlungsdauer bei Alkoholikern leisten.

Der Tagesbedarf an Thiamin beträgt ∼1,5 mg; bei Entzug tritt TD innerhalb von 2-3 Wochen auf (Thomson, 2000). Bei Normalpersonen übersteigt die Absorption von Thiamin nicht 4,5 mg, selbst wenn hohe Thiamin-Dosen oral verabreicht werden (Thomson, 2000). Bei Alkoholikern ist die orale Absorption von Thiamin sehr unterschiedlich, wobei einige Patienten nur eine geringe oder gar keine Absorption aufweisen (Thomson, 2000). Etwa 80 % der Alkoholiker entwickeln TD als wahrscheinliche Folge einer unzureichenden Nahrungsaufnahme, einer verminderten Absorption und einer gestörten Verwertung von Thiamin (Singleton und Martin, 2001). Bei unterernährten Alkoholikern beträgt die maximale Absorption von Thiamin nach einer einzigen oralen Dosis nur 0,8 mg oder weniger, wenn kurz zuvor Alkohol konsumiert wurde (Cook et al., 1998).

Die parenterale Verabreichung von Thiamin wird einhellig als Mittel der Wahl angesehen, um die Thiaminspeicher so schnell wie möglich wieder aufzufüllen (Reuler et al., 1985). Dennoch verschreiben Ärzte offenbar nur selten eine parenterale Verabreichung von Thiamin. In einer kürzlich durchgeführten retrospektiven Studie wurde beispielsweise festgestellt, dass nur ein Fünftel der Patienten, die wegen einer Kopfverletzung ins Krankenhaus eingeliefert wurden und bei denen ein Risiko für TD bestand, Thiamin erhielten (Ferguson et al., 2000). Von den letzteren erhielten 75 % Thiamin oral über einen kurzen Zeitraum und in niedriger Dosierung. Ärzte sind in der Regel besorgt über mögliche unerwünschte Reaktionen wie Anaphylaxie, Dyspnoe/Bronchospasmus und Hautausschlag/Rötung (Cook et al., 1998) nach parenteraler Verabreichung. Es sei jedoch darauf hingewiesen, dass diese Reaktionen 10 bis 100 Mal seltener auftreten als bei der Verabreichung von Penicillin (Cook et al., 1998). Außerdem scheint eine langsame Infusion von Thiamin (d.h. über einen Zeitraum von 30 Minuten) das mögliche Auftreten von Nebenwirkungen zu verringern (Thomson et al., 2002).

Einige neuere Arbeiten von Cook, Thomson und Kollegen (Cook und Thomson, 1997, Thomson und Cook, 1997, Cook et al, 1998, Hope et al., 1999, Cook, 2000, Thomson, 2000, Thomson et al., 2002) beschreiben ausführlich sowohl die Prophylaxe als auch das Behandlungsschema von WKS in Bezug auf die Thiamindosierung und die Behandlungsdauer. Konkret besteht die prophylaktische Behandlung für Risikopatienten in einer intramuskulären Verabreichung von 250 mg Thiamin (plus andere B-Vitamine und Ascorbinsäure), einmal täglich an 3-5 aufeinander folgenden Tagen. Fälle von nachgewiesener WE sollten empirisch mit mindestens 500 mg Thiamin (plus andere B-Vitamine und Ascorbinsäure), i.v. oder i.m., dreimal täglich für mindestens 2 Tage behandelt werden. Bei Patienten mit Ataxie, Polyneuritis, Verwirrtheit oder Gedächtnisstörungen sollte die Behandlung so lange fortgesetzt werden, bis eine klinische Besserung eintritt.

Die Befolgung der oben genannten Empfehlungen erfordert geeignete pharmazeutische Präparate. In Italien variiert der Thiamingehalt der derzeit erhältlichen parenteralen Präparate zwischen 2 und 100 mg pro Ampulle. Nach den oben genannten Indikationen für die WKS-Behandlung sollte ein italienischer Patient mindestens die unwahrscheinliche Zahl von 15 Ampullen pro Tag erhalten.

Es ist sehr wahrscheinlich, dass das Fehlen eines geeigneten Präparats sowie das Fehlen klarer Richtlinien für die Dosierung und die Dauer der Behandlung weiterhin dazu führen wird, dass eine Thiaminmenge verschrieben wird, die nicht mit den als wirksam erachteten Präparaten übereinstimmt.

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