Willenskraft berührt fast alle Aspekte eines gesunden Lebens: richtig essen, Sport treiben, Drogen und Alkohol meiden, mehr lernen, härter arbeiten, weniger ausgeben. Es überrascht nicht, dass Selbstbeherrschung ein heißes Thema geworden ist, sowohl für Wissenschaftler, die die Wurzeln des menschlichen Verhaltens verstehen wollen, als auch für Praktiker, die den Menschen helfen wollen, gesünder zu leben. Roy F. Baumeister, PhD, Sozialpsychologe an der Florida State University, ist einer der führenden Forscher auf diesem Gebiet. Sein neues Buch „Willpower: Rediscovering the Greatest Human Strength“ (Wiederentdeckung der größten menschlichen Stärke), das er gemeinsam mit dem Journalisten John Tierney verfasst hat und das im September erschienen ist, beschreibt überraschende Beweise dafür, dass Willenskraft eine begrenzte Ressource ist, die schnell aufgebraucht wird.

Baumeister sprach mit dem Monitor über seine Forschungen zur Selbstbeherrschung – woher sie kommt, wie man mehr von ihr bekommt und was Psychologen noch lernen müssen.

Was treibt Sie an, Willenskraft besser zu verstehen?

Die praktische Bedeutung ist enorm. Die meisten Probleme, die den modernen Menschen in unserer Gesellschaft plagen – Sucht, übermäßiges Essen, Kriminalität, häusliche Gewalt, sexuell übertragbare Krankheiten, Vorurteile, Verschuldung, ungewollte Schwangerschaft, Bildungsversagen, unzureichende Leistungen in Schule und Beruf, fehlende Ersparnisse, mangelnde körperliche Betätigung – haben in gewissem Maße ein Versagen der Selbstkontrolle als zentralen Aspekt.

Die Psychologie hat zwei Haupteigenschaften identifiziert, die ein immens breites Spektrum von Vorteilen hervorzubringen scheinen: Intelligenz und Selbstkontrolle. Trotz jahrzehntelanger Versuche hat die Psychologie nicht viel gefunden, was man tun kann, um die Intelligenz dauerhaft zu steigern. Aber die Selbstbeherrschung kann gestärkt werden. Daher ist die Selbstkontrolle eine seltene und mächtige Gelegenheit für die Psychologie, einen spürbaren und äußerst nützlichen Unterschied im Leben normaler Menschen zu bewirken.

Sie haben festgestellt, dass Willenskraft eine begrenzte Ressource ist. Können Sie das erklären?

Viele Studien haben ergeben, dass Menschen bei Tests zur Selbstkontrolle relativ schlecht abschneiden, wenn sie zuvor eine scheinbar nicht damit zusammenhängende Handlung der Selbstkontrolle durchgeführt haben. In einer Studie in meinem Labor haben wir beispielsweise einige Studenten aufgefordert, frisch gebackene Schokoladenkekse zu essen, und andere gebeten, den Keksen zu widerstehen und stattdessen Radieschen zu mampfen. Dann gaben wir ihnen unmögliche Geometriepuzzles zu lösen. Die Schüler, die die Kekse aßen, arbeiteten im Durchschnitt 20 Minuten lang an den Rätseln. Die Studenten, die den verlockenden Keksen widerstanden hatten, gaben jedoch nach durchschnittlich acht Minuten auf.

Solche Studien legen nahe, dass ein Teil der Willenskraft durch die erste Aufgabe verbraucht wurde und weniger für die zweite übrig blieb. Dieses Muster steht im Gegensatz zu dem, was man aufgrund von Priming oder der Aktivierung eines Reaktionsmodus erwarten würde. Wir kamen also zu dem Schluss, dass eine Art begrenzte Ressource am Werk ist: Sie erschöpft sich, wenn Menschen verschiedene Handlungen der Selbstkontrolle ausführen. Mit der Zeit haben wir begonnen, diese Ressource mit dem volkstümlichen Begriff der Willenskraft zu verbinden. „Willenskraft“ selbst ist ein volkstümlicher Begriff, und die Vorstellung, dass wir über eine gewisse Charakterstärke verfügen, ist ein Grundpfeiler der Volkspsychologie. Bis vor kurzem hatten diese volkstümlichen Vorstellungen nur wenig Ähnlichkeit mit der psychologischen Theorie – aber unsere Ergebnisse legen nahe, dass diese Vorstellungen zumindest teilweise richtig sind. In mancher Hinsicht unterscheidet sich die Erschöpfung der Willenskraft jedoch von den traditionellen und volkstümlichen Vorstellungen über Willenskraft.

Wie kommt das?

Wir haben zum Beispiel festgestellt, dass auch das Treffen von Entscheidungen die Willenskraft zu erschöpfen scheint. Wir haben festgestellt, dass dieselbe Energie, die für die Selbstkontrolle verwendet wird, auch für das Treffen von Entscheidungen eingesetzt wird. Nachdem man Entscheidungen getroffen hat, ist die Selbstkontrolle schlechter. Umgekehrt verlagert sich die Entscheidungsfindung nach der Ausübung der Selbstkontrolle auf einfachere und leichtere Prozesse. Das kann dazu führen, dass Menschen schlechtere Entscheidungen treffen oder gar keine Entscheidungen treffen. Ich war etwas überrascht, dass die Entscheidungsfindung dieselbe Ressource wie die Selbstkontrolle erschöpft. Intuitiv erschien mir das nicht richtig, aber auf dem Papier war die Hypothese eine plausible Erweiterung. Also testeten wir sie und haben den Effekt nun wiederholt nachgewiesen. Als wir erkannten, dass dieselbe Ressource sowohl für die Selbstkontrolle als auch für die Entscheidungsfindung verwendet wird, mussten wir nach einem breiteren Rahmen suchen. Ich denke, dieser gemeinsame Prozess ist die psychologische Realität hinter der volkstümlichen Vorstellung vom freien Willen.

Können Sie uns ein typisches Beispiel für die Erschöpfung der Willenskraft nennen?

Ein Diätetiker kann leicht einen Donut zum Frühstück vermeiden, aber nach einem langen Tag, an dem er bei der Arbeit schwierige Entscheidungen treffen musste, fällt es ihm viel schwerer, dem Stück Kuchen zum Nachtisch zu widerstehen. Ein anderes Beispiel wäre, die Beherrschung zu verlieren. Normalerweise reagieren Sie nicht negativ auf unangenehme Dinge, die Ihr romantischer Partner sagt. Aber wenn Sie eines Tages besonders erschöpft sind – vielleicht versuchen Sie, einen stressigen Arbeitstermin einzuhalten – und die Person genau das Falsche sagt, brechen Sie aus und sagen die Worte, die Sie sich verkneifen würden, wenn Ihre Selbstbeherrschung voll ausgeprägt wäre. Wie nennen Sie diesen Prozess? Meine Mitarbeiter und ich verwenden den Begriff „Ego-Depletion“, um den Zustand der erschöpften Willenskraft zu bezeichnen. Ursprünglich nannten wir es „regulatorische Erschöpfung“, weil sich die ersten Erkenntnisse ausschließlich auf die Selbstregulierung bezogen. Als sich herausstellte, dass dieselbe Ressource auch für die Entscheidungsfindung verwendet wird, wollten wir einen umfassenderen Begriff, der darauf hinweist, dass ein Kernaspekt des Selbst erschöpft ist. Wir entlehnten den Begriff „Ego“ aus der Freudschen Theorie, weil Freud davon gesprochen hatte, dass das Selbst zum Teil aus Energie und aus Prozessen besteht, die mit Energie zu tun haben.

Wie häufig sind Ereignisse, die das Ego erschöpfen?

Mancher stellt sich vor, dass Selbstbeherrschung oder Willenskraft etwas ist, das man nur ab und zu einsetzt, etwa wenn man versucht ist, etwas Falsches zu tun. Das Gegenteil ist der Fall. Untersuchungen zeigen, dass der durchschnittliche Mensch drei bis vier Stunden am Tag damit verbringt, seinen Wünschen zu widerstehen. Außerdem wird die Selbstbeherrschung auch für andere Dinge eingesetzt, z. B. für die Kontrolle von Gedanken und Gefühlen, die Steuerung der Aufgabenerfüllung und das Treffen von Entscheidungen. Die meisten Menschen setzen ihre Willenskraft also mehrmals am Tag ein, den ganzen Tag.

Sie haben eine physische Grundlage für die Erschöpfung des Egos gefunden?

Ja. Mein ehemaliger Student Matthew Gailliot, PhD, und ich haben die Rolle der Glukose bei der Selbstkontrolle mehr oder weniger zufällig entdeckt. Als wir eine andere Theorie testeten, stießen wir auf die Erkenntnis, dass Menschen, die etwas zu essen bekamen, danach eine bessere Selbstkontrolle zeigten – unabhängig davon, ob sie das Essen genossen hatten. Dies führte dazu, dass wir mehrere Jahre lang daran arbeiteten, herauszufinden, wie Glukose mit der Selbstkontrolle zusammenhängt.

Glukose ist die Chemikalie im Blutkreislauf, die dem Gehirn, den Muskeln und anderen Organen und Systemen Energie zuführt. Einfach ausgedrückt: Glukose ist der Treibstoff für das Gehirn. Selbstkontrolle senkt den Glukosespiegel im Blut. Niedrige Glukosespiegel sind ein Indikator für schlechte Leistungen bei Selbstkontrollaufgaben und -tests. Das Auffüllen des Blutzuckerspiegels, und sei es nur mit einem Glas Limonade, verbessert die Leistung der Selbstkontrolle.

Wie kann man die Willenskraft stärken, abgesehen von einem Schluck Limonade?

Eine ganze Reihe von Studien in verschiedenen Labors hat inzwischen gezeigt, dass Menschen ihre Selbstkontrolle auch als Erwachsene verbessern können. Wie ein Muskel wird sie durch regelmäßiges Training stärker. Wenn man also ein paar Wochen lang zusätzliche Aktivitäten zur Selbstkontrolle durchführt, verbessert sich die Selbstkontrolle, auch bei Aufgaben, die keinen Bezug zu den Übungsaktivitäten haben. Die Übungen können willkürlich sein, wie z. B. das Öffnen von Türen oder das Zähneputzen mit der linken Hand statt mit der rechten. Sie können aber auch sinnvoll sein, z. B. wenn man daran arbeitet, sein Geld besser zu verwalten und mehr zu sparen. Wichtig ist, dass Sie sich darin üben, Ihre Gewohnheiten zu überwinden und Ihre Handlungen bewusst zu kontrollieren. Im Laufe der Zeit verbessert diese Übung die Selbstkontrolle.

Gibt es noch viel über die Ich-Erschöpfung zu lernen?

Ich bin immer wieder überrascht und erfreut zu sehen, wie viele verschiedene Forscher mit kreativen Erweiterungen, Verfeinerungen und Anwendungen dieser grundlegenden Ideen über Willenskraft aufwarten. Im letzten Jahr gab es Studien darüber, wie Willenskraftprozesse dazu beitragen können, die Probleme von Studenten zu erklären, die sich Sorgen machen, sich an der Universität anzupassen, wie Führungskräfte ausbrennen können, ob Hunde in Kämpfe verwickelt werden, ob Menschen ihre Versprechen gegenüber romantischen Partnern einhalten und vieles mehr.

In unserer eigenen Arbeit haben wir kürzlich Beweise für die Erschöpfung des Egos außerhalb des Labors gefunden, was ein sehr wichtiger Schritt ist. In einer Studie, an der ich zusammen mit Dr. Wilhelm Hofmann, Psychologe an der Universität von Chicago, mitgearbeitet habe, trugen die Teilnehmer eine Woche lang Piepser und berichteten über ihre Wünsche und entsprechenden Handlungen im Alltag. Wir fanden heraus, dass die Teilnehmer mit zunehmender Erschöpfung ihrer Willenskraft immer eher bereit waren, Wünschen nachzugeben, denen sie sonst vielleicht widerstanden hätten. Dies galt für alle Arten von Wünschen: Schlaf, Essen, Sex, Spiele, Geld ausgeben, Alkohol trinken oder Zigaretten rauchen und so weiter.

Eine weitere Herausforderung für die Forschung besteht darin, herauszufinden, wie es sich anfühlt, wenn das Ego erschöpft ist. Die Bemühungen, einen Selbstbericht zur Messung des erschöpften Zustands zu entwickeln, waren nicht sehr erfolgreich. Eine Reihe von Studien unter der Leitung von Dr. Kathleen Vohs, Psychologin an der Universität von Minnesota, hat herausgefunden, dass ein erschöpftes Ich dazu führt, dass alle Arten von Emotionen und Wünschen stärker als gewöhnlich empfunden werden – Menschen mit einem erschöpften Ich berichteten beispielsweise von stärkeren Reaktionen auf angenehme und unangenehme Bilder und schienen auch körperliche Schmerzen intensiver zu erleben. Die Erschöpfung hat kein charakteristisches Gefühl, aber es scheint so zu sein, als würde man das gesamte Leben lauter stellen.

Kirsten Weir ist Schriftstellerin in Minneapolis.

admin

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